Autorin: Milena Isensee
Der Geist heulte, Mia schrie, und auch Max stimmte ein.
„Der Geist heult!“
Max war verwirrt, ehe seine Verwirrung in Wut umschlug. „Das war der Wind. Man wegen dir bekomme ich noch einen Herzinfarkt!“
Es war die Nacht von Halloween und die Geschwister hatten sich entschieden, heute in der alten Scheune ihres Großvaters zu nächtigen – um ein für alle Mal zu beweisen, wer von ihnen beiden mutiger ist. Wobei nach diesem Auftritt die Antwort ohnehin klar war, wie Max fand. Augenrollend machte er sich daran, seinen Schlafsack auszubreiten.
„Du hast auch geschrien“, verteidigte sich Mia.
„Ja, weil du mich zu Tode erschreckt hast, du Nase.“
Krrrk – ein langgezogenes Knarren zerschnitt die Stille. Mia zuckte zusammen, drehte sich geschwind zu dem Geräusch, der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe folgte.
„Was war das?“, hauchte sie.
„Du hast die Tür nicht richtig zugemacht“, murrte Max und stand auf, um den Fehler seiner Zwillingsschwester zu beheben.
„Wo willst du hin?“, fragte diese sogleich. In ihren Augen stand die Panik.
Die alte Scheune war aber auch wirklich unheimlich. Hinter jeder Ecke lauerte das Unbekannte und sie hatten nur ihre beiden Taschenlampen, die ihnen als Lichtquelle dienten. Mia verstand nicht, wie Max so ruhig bleiben konnte. Für sie kam jeder Schatten einem Monster gleich.
„Ich mache nur kurz die Tür zu.“
Mia nickte, was Max jedoch nicht mehr sah. Um sich von ihrer Angst abzulenken, breitete auch sie ihren Schlafsack aus und entschied sich, sich an den erbeuteten Süßigkeiten des Abends zu vergreifen: Schokolade, saure Gummis, Lutscher – Ihre Ausbeute war reichlich.
„Isst du da etwa unseren Preis?“, fragte Max, als er zurückkam.
„Nö“, erwiderte sie und biss den Kopf ihrer Schlange ab.
Plötzlich flackerte das Licht ihrer Taschenlampe.
„Ey!“, rief sie und klopfte energisch auf das Gehäuse.
Das Licht ging aus. Dann wieder an. Dann … aus.
Max hob die Augenbraue. „Du hast bestimmt wieder die Billigbatterien genommen.“
„Habe ich nicht! Das Ding ist einfach ausgegangen!“
Mia drehte den Verschluss der Lampe auf, platzierte die Batterien neu – ein alter Trick ihrer Mutter. Sie grinste triumphierend, als das Licht erneut anging. Sie richtete den Lichtstrahl rüber zu Max – doch der war verschwunden.
„Max?“
Stille. Das Licht flog von der einen Ecke in die nächste, doch keine Spur von ihrem Bruder.
„Max!“
Krrrk – Mia zuckte. Ihr Blick glitt nach oben.
Da war nichts. Nur alte Balken und staubige Spinnweben, redete sie sich selbst Mut zu.
„MAX!?“ Ihre Stimme – nicht mehr als ein Winseln.
Ein Plumps.
Mia quietschte auf und drehte sich ruckartig um.
Max stand hinter ihr – mit einer staubigen Leiter in der Hand.
„Sorry. Alte Leiter. Ich wollte nur mal gucken, ob da oben was ist. Ich dachte, ich hätte was gehört.“
Mia schnappte nach Luft. „Kannst du vielleicht vorher sagen, wenn du verschwindest?“
Max grinste. „Wäre doch langweilig.“
Konnte man Brüder umtauschen?
„Und war oben was?“
„Nein, waren bestimmt nur Mäuse oder ein Marder. Oder Milli, die die Mäuse jagt. Ein Geist war es sicher nicht.“
Max ließ sich neben Mia auf seinen Schlafsack plumpsen.
„Ich sag dir eins“, meinte Mia und schob sich einen Lutscher in den Mund, „wenn da eine Maus runterkommt, renn ich sofort zurück ins Haus.“
„Dann verlierst du die Mutprobe“, grinste Max. „Und ich bekomm dein ganzes Halloweenzeug.“
„Träum weiter.“
Sie wollten gerade in ihre Schlafsäcke schlüpfen, als ein dumpfes Muhen die Nacht zerriss.
„Was war das?!“ Mia schoss hoch wie ein Blitz.
„Kühe, was sonst“, meinte Max und schwenkte seine Taschenlampe durch die Dunkelheit.
Der Lichtstrahl huschte durch den Raum – über Holzpfosten, Strohballen, dann… stoppte er. Zwei große Augenpaare leuchteten im Dunkeln auf.
Gelblich-grün, regungslos.
„Aaaaah!“ Mia stolperte rückwärts und fiel fast über ihren Schlafsack.
Max hielt den Lichtkegel ruhig. „Beruhig dich – das sind nur Kühe.“
Und tatsächlich, jetzt erkannte man die Umrisse. Zwei Kühe standen am Rand der Scheune, fast unsichtbar im Schatten, die Köpfe leicht geneigt, als würden sie die Kinder mit stiller Neugier beobachten. Ihre Augen glänzten gespenstisch im Licht der Taschenlampe.
„Unheimlich. Wie Geisteraugen“, flüsterte Mia.
„Die haben dieses… Tapir… Tapedings im Auge“, murmelte Max. „Das reflektiert Licht.“
Ein erneutes Muhen. Doch dann ein Scharren. Und… war das ein Kettengeräusch?
„Max…“ Mia stand nun ganz still da, die Taschenlampe zitterte in ihrer Hand. „Das kam von vorne!“
Max, jetzt sichtlich nervöser, nickte langsam. „Vielleicht… ein Einbrecher?“
„Ein Einbrecher!“, kreischte Mia.
„Psst! Ich höre sonst nichts.“
Die Kinder lauschten in die Stille hinein.
Klong. Klong. Klong. Langsame, schwere Schritte näherten sich. Dann ein tiefes, keuchendes Atmen. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe wanderte Richtung Tür – die sich ganz langsam unter quietschen zu öffnen begann. Ein Schatten fiel auf die Bretter der Scheune.
Eine Gestalt trat ein. Groß. Vermummt.
Mia schrie. Max schrie. Beide schrien. Und rannten. Über ihre Süßigkeiten, über die Schlafsäcke, an der Gestalt vorbei, die in der Eile des Gefechts zur Seite geworfen wurde, über den Hof und in die sichere Stube, wo in Windeseile die Tür verbarrikadiert wurde.
„Unentschieden?“ „Unentschieden.“ Bestimmten die Kinder, nachdem der erste Schreck verdaut war.
Inzwischen waren alle wieder glücklich:
Mia und Max, weil sie den ultimativen Mutbeweis überlebt hatten.
Die Kühe, weil endlich Ruhe eingekehrt war.
Nur einer war weniger begeistert: Opa.
Der saß nun im Kuhstall, ohne Decke, ohne Tee – und mit zwei Kühen, die ihn eindringlich anstarrten.
Quelle: Erstellt mit KI microsoft bing image creator.
